„Ruth Melcer ist eine starke Frau“, äußerte eine Schülerin, nachdem sie am 8. November 2024 die Gelegenheit erhalten hatte, am Online-Gespräch mit der Zeitzeugin Ruth Melcer teilzunehmen. Mit viel Empathie moderierte Ellen Diehl von der Friedrich-Ebert-Stiftung das Gespräch unter Einbeziehung der im Vorfeld von den Schülerinnen und Schülern eingereichten Fragen.
Bereits zu Beginn wurde deutlich, wie schwer es Ruth Melcer fiel, über das Erlebte zu sprechen. Für ihren gemeinsam mit anderen Kleinkindern ermordeten sechsjährigen Bruder, dessen Todestag just auf diesen 8. November fiel, wurde für die Dauer des Gesprächs eine Kerze entzündet. Betroffen formulierte eine Schülerin hinterher: „Mein kleiner Bruder ist genauso alt wie ihr Bruder zu dem Zeitpunkt, als er erschossen wurde. Ich kann nicht einmal mit dem Gedanken leben, dass meinem Bruder etwas passieren sollte. Was muss sie gefühlt haben? Ich kann mir gar nicht vorstellen, welchen Schmerz sie ihr ganzes Leben lang mit sich herumträgt. Ich habe solches Mitleid mit ihr.“
Die 1935 nahe der polnischen Stadt Lodz geborene Ruth Melcer war vier Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht in Polen einmarschierte. Mit sieben Jahren kam sie in ein Arbeitslager, ehe die Familie 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurde. Nur weil ihre Mutter sie als 12-Jährige ausgegeben hatte, entging sie der sofortigen Ermordung. Denn so stellte das kleine Mädchen für die Nazis einen Wert als Arbeitskraft dar, was ihr das Überleben überhaupt erst ermöglichte. „Als kleines Kind zu sehen, wie Menschen umgebracht werden, der Geruch der vielen Toten, der rote Himmel über den Krematorien – das ist grausam. Kein normales Essen, nur Suppe und wenig Brot. Die Schreie von sterbenden Menschen. Eine Mutter, die mit 37 Jahren aussieht wie eine 80-Jährige, weil sie so hart arbeiten musste“, bemerkt eine sichtlich betroffene Schülerin. Auch tue ihr sehr leid, dass Ruth ihren Vater damals nicht sehen und auch nichts mit ihm habe unternehmen können.
Als Ruth Melcer ihre Befreiung erlebte, war sie 9 Jahre alt. Sie wog nur noch 13 kg, war ausgehungert und völlig verlaust. „Meine Katze wiegt 13 kg“, äußerte sich ein Schüler erschrocken.
Nach dem Krieg fand Ruth Melcer Mutter und Vater wieder. Die Trauer über den Verlust des kleinen Bruders blieb aber ein Leben lang.
Es sind traumatische Erinnerungen, die nicht nur aufwühlend für die Schülerinnen und Schüler waren, sondern deutlich erkennbar auch für die Zeitzeugin selbst. Dennoch nimmt sie es immer wieder auf sich, vor Schulklassen über ihre Erlebnisse zu sprechen. Dies tue sie nicht zuletzt deshalb, weil sie, wie sie deutlich machte, heute wieder mit Hass und Ausgrenzung konfrontiert sei. Sie hoffe darauf, dass junge Leute den Mut aufbrächten, sich dagegen zu wehren und für die Demokratie einzutreten. Man dürfe nicht wegschauen, Demokratie erfordere Einsatz. Ihr Appell: Die Geschichte dürfe sich nicht wiederholen.
Persönliche Lehren zog eine Schülerin unserer Schule im Anschluss an das Gehörte: „Ich bin aus Syrien. Da gibt es Krieg. Ich habe das miterlebt. Es ist wie ein Trauma. Niemals werde ich eine andere Religion beleidigen oder einen Menschen wegen dessen Aussehen schikanieren oder auslachen. Und genau so will ich in Zukunft meine Kinder erziehen: Sie sollen jedem Menschen Respekt entgegenbringen.“